Empathische Begleitung für Kinder und Jugendliche aus Problemfamilien steht im Focus der Arbeit im Puckenhof.
Bild: Puckenhof
Jugendhilfe
"Give me five...!"
Die Pause ist vorbei, und die Kinder wollen nicht zur Ruhe kommen. Eine Viertelstunde spielen, toben, schreien, und jetzt still sitzen? Da hilft nur ein Trick. Christian Ruderisch legt eine CD ein, und drei Minuten lang ertönt irische Musik. Tommy, Valerie* und die anderen sechs Kinder der Klasse 3a im Puckenhof werden ruhig – zumindest für einen Moment. Kaum hat Ruderisch die Musik ausgeschaltet, wird es wieder laut. Der Lehrer hebt die Hand, hält fünf Finger in die Luft und sagt „Give me five“, wie man es aus amerikanischen Filmen kennt.
Wieder kehrt Stille ein, und erst jetzt kann Ruderisch mit dem Unterricht beginnen. Später wird er erzählen, dass hinter der erhobenen Hand mit den fünf Fingern ein pädagogisches Konzept steht, und jeder Finger für einen Aspekt des Miteinanders steht: Ein Finger etwa für das Hören auf den anderen, ein Finger für das Schweigen, ein Finger für den Blickkontakt mit dem Sprechenden. Die Kinder, wird er erklären, benötigen diese Regeln und Hilfen, denn genau das sei einer der Gründe, warum sie die Schule zur Erziehungshilfe besuchten und nicht eine Regelschule: „Es fehlt vielen an grundlegenden Sozialkompetenzen, an der Fähigkeit, sich zu konzentrieren.“
Der Lehrstoff entspricht dem der Regelschule
Genau die aber ist jetzt gefragt, denn heute geht es um den Zahlenraum eintausend. Ruderisch hat Linsen, Kaffeebohnen, und weiße Bohnen mitgebracht. Die Kinder sollen daran das Zählen größerer Mengen lernen. Der Lehrstoff in der Schule zur Erziehungshilfe, so Ruderisch nach der Stunde, entspricht dem der Regelschule, die Klassengröße und die Unterrichtsmethoden hingegen seien auf die Problemstellungen der Kinder abgestimmt. Fünf Minuten zählen die Kinder in Kleingruppen ihre Früchte, und immer wieder muss Ruderisch die Hand hochhalten, fünf Finger zeigen, für Ruhe sorgen.
Dann die Präsentation der Ergebnisse. Nicht alle sind sie fertig geworden, und auch Tommy hat es nicht geschafft, alle seine Bohnen zu zählen. „Ihre“ Zahl wollen sie trotzdem alle sagen, aber mit lauten „Ich, ich, ich“-Rufen kommen sie bei Ruderisch nicht weiter: „Give me Five“.
Der Puckenhof
Der Puckenhof geht zurück auf die „Arme-Töchter-Anstalt“, die wohl-habende Erlanger Frauen im Jahr 1922 gründeten. Träger war der Erlanger Verein für Armenpflege, den Johann Hinrich Wichern 1849 besuchte. Nach Wicherns Vorbild beschließen die Erlanger die Gründung eines Rettungshauses. 1850 wird das Puckenhofer Schlösschen gekauft, in dem das Rettungshaus seine Heimat findet. Heute gehören unter anderem eine Schule zur Erziehungshilfe, heilpädagogische Wohngruppen und eine heilpädagogische Tagesstätte zum Verbunde des Puckenhofes.
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Aufgewachsen ist Tommy bei seiner Mutter, und mit der Einschulung beginnen die Konflikte: Er kann sich nicht konzentrieren, streitet sich mit anderen Kindern, die Leistungen fallen ab, und schließlich treibt er sich lieber auf dem Spielplatz herum. Klare Regeln gibt es zu Hause nicht, und die Mutter reagiert in ihrer Überforderung dadurch, dass sie ihrem Kind keinen Wunsch mehr abschlägt. Dann schließlich: Schulpsychologe, Jugendamt, der Puckenhof. Eine typische Biographie? Ja, sagt Martin Leimert, Gesamtleiter des Puckenhofes. „Bestimmte Defizite, die aus der familiären Situation herrühren, führen zu Ausgrenzungserfahrungen bei den Kindern, auf die sie dann auf ihre Art reagieren. Das wiederum verstärkt die Ausgrenzung. Eine Spirale.“ Das könne so weit gehen, dass sich Elterninitiativen bilden, um ein Kind aus einem Klassenverbund heraus zu bekommen.
"Wir müssen uns um diese Kinder kümmern"
„Besonders schlimm ist es in der vierten Klasse, wenn der Wechsel auf die weiterführende Schule ansteht, und jeder nur noch schaut, dass das eigene Kind den Sprung aufs Gymnasium schafft. Störungen sind dann nicht erwünscht“, sagt Leimert, und die Lehrer seien bei den Klassengrößen kaum in der Lage, Kinder mit sozialen Auffälligkeiten ausreichend zu helfen. Und das könne er ihnen auch nicht zum Vorwurf machen.
„Aber wir müssen uns um diese Kinder kümmern, und das so bald als möglich.“ Die aktuelle politische Diskussion um jugendliche Gewalttäter und das Jugendstrafrecht beobachtet Leimert mit Skepsis, auch wenn die Kinder, die in den Einrichtungen des Puckenhofs betreut werden, meist deutlich jünger als 14 Jahre sind. Hier gibt es kaum Kinder, die in das Schema des gewalttätigen Jugendlichen passen; sie sind eher zu zurückgezogen – oder sie leiden an dem chronischen Aufmerksamkeitsdefizit, ADHS.
"Bessere finanzielle Ausstattung wäre gut"
„Frühzeitige Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe könnten Vieles von dem verhindern, was gegenwärtig diskutiert wird.“ Nicht zuletzt deswegen ärgert ihn die Diskussion um die Kosten der Jugendhilfe. Drei Wünsche an die Politik, Herr Leimert? Er zögert. Dann: „Die Politik sollte mehr als bislang anerkennen, was die Kinder- und Jugendhilfe tut.“ Und: „Eine bessere finanzielle Ausstattung wäre gut“. Den dritten Wunsch will er sich aufheben, denn man weiß ja nie, was noch kommt. Die Erfolgsquote seiner Einrichtung liegt bei 80 Prozent, aber was heißt das schon? Leimert tut sich schwer mit dem Wort. „Erfolg – das heißt für uns, dass die Kinder zurück können in eine Regelschule, dass sie ein Schulabschluss machen, dass ihr weiterer Lebensweg gelingt.“
Das Bohnenzählen ist mittlerweile zwei Stunden her und jetzt steht Tommy in der heilpädagogischen Tagesstätte und hat keine große Lust auf seine Hausaufgaben. Er will lieber Pirat sein. Ein richtiger Pirat mit Gürtel, Säbel und Augenklappe, aber er hat nur eine schwarze Hose und ein rot-weiß gestreiftes Hemd, und das ist auch noch nicht einmal richtig schmutzig.
Auch kleine Privaten müssen ihre Hausaufgaben machen
Aber dann sieht er ein, dass auch kleine Piraten ihre Hausaufgaben machen müssen, und freut sich über die Zahl auf seinem Handgelenk. „138“ steht da, soviel Bohnen hat er am Vormittag gezählt, und für einen Augenblick ist diese Zahl keine Erinnerungshilfe mehr, sondern eine Tätowierung. Tommy fühlt sich ein wenig mehr wie ein Pirat und beginnt mit seinen Hausaufgaben.
Das geht fix, denn Mathe hat er gern. Seine Leistungen sind deutlich besser geworden, seit dem er im Puckehof ist, sagen die Betreuer, und auch sein Sozialverhalten habe sich verändert. Alle sechs Monate wird im Rahmen eines Hilfeplanverfahren der Fortschritt überprüft – inklusive der Möglichkeit, den Puckenhof wieder zu verlassen. Denn das, sagt Leitner, sei das eigentliche Ziel: „Wir haben dann Erfolg, wenn es uns nicht mehr braucht.“
*Alle Namen von der Redaktion geändert
02.08.2021
Daniel Wagner / Diakonie Bayern